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AVIVA-BERLIN.de 3/3/5785 - Beitrag vom 24.06.2003


Ein neuer Blickwinkel auf den Nahost-Konflikt
Jessica Cohen

Regisseur Noam Shalev (Primetime War II) über die Schwierigkeiten bei der Berichterstattung für israelische und palästinensische Kameraleute. Ein Gespräch mit Igal Avidan und Esther Schapira




In seinem Dokumentarfilm schildert Noam Shalev den Alltag von Kameraleuten in Israel. Er begleitet israelische, palästinensische und einen australischen Kameramann bei ihrer Berichterstattung über Geschehnisse in Israel und in den besetzten Gebieten. Sein Film Primetime War II (2002), der sich an Primetime War (1998) anschließt, wurde am 17. Juni im Rahmen des 9. Jewish Film Festival im Arsenal ausgestrahlt. Anschließend sprach Noam Shalev mit Igal Avidan, Israelkorrespondent in Berlin, und Esther Schapira, Ressortleiterin Zeitgeschichte beim Hessischen Rundfunk, Filmemacherin und Buchautorin.

Igal Avidan: 1998 haben Sie den ersten Primetime War für die englische Channel 4 gedreht. Warum haben Sie nun einen Film gemacht, der eine zweite Fassung des Ersten ist?

Noam Shalev: Kameramänner zu filmen eröffnet einen hoch interessanten Blickwinkel auf den Konflikt im Nahen Osten. Das Problem ist, dass dieser Konflikt sehr komplex ist. Ich wollte zu den Leuten gehen, die ihn direkt erfahren, ohne manipuliert zu werden.
Zwischen 1996 und 1998, als ich den ersten Primetime War gedreht habe, war man als Kameramann immun. Man wurde nicht angegriffen. Mit dem Beginn der zweiten Intifada 2002 hat sich alles geändert. Es ist nun ein richtiger Krieg, mit Panzern und Maschinengewehren. Sehr viele Menschen starben, unter ihnen auch Journalisten. Es gibt kein Sonderarrangement mehr für die Medien. Israelische Kameramänner können nur noch in Israel filmen, und palästinensische Kameramänner dürfen nur noch in ihren Städten filmen.

Igal Avidan: In ihrem Film Drei Kugeln und ein totes Kind hat Esther Schapira recherchiert, ob das erste Opfer der Intifada, ein Kind, das mit seinem Vater in eine Schießerei geraten ist, von israelischen Soldaten erschossen worden ist.
Im August 2002 erließ der palästinensische Journalistenverband das Verbot, Kinder mit Waffen zu zeigen. Wie schwer war es, in Palästina zu arbeiten?

Esther Schapira: Ich möchte mich dem anschließen, was Noam Shalev gesagt hat: Es stimmt längst nicht mehr, dass Journalisten nicht Teil des Krieges sind. Der Nahost-Konflikt ist ein Medienkrieg, die Kamera eine Waffe. Der palästinensische Journalistenverband erließ dieses Verbot nicht, weil die Realität so schrecklich ist, sondern weil waffentragende Kinder propagandistisch ungünstig sind.
Das Kind, das neben seinem Vater erschossen worden ist, ist zur Ikone der Intifada geworden, weil es das Bild Davids gegen Goliath, des Schwachen gegen den Starken darstellt. Von der palästinensischen Seite habe ich für meinen Film zunächst große Unterstützung bekommen, bis klar wurde, dass ich wirklich recherchiere. Bei den Israelis war es genau umgekehrt.

Igal Avidan: Der palästinensische Kameramann Naji Dana, der für eine französische Nachrichtenagentur in Hebron tätig ist, wurde bereits drei Mal verwundet. Aber er möchte weitermachen, weil er glaubt, durch seine journalistische Arbeit etwas gutes für sein Volk tun zu können. Ist dieser Film gut für das israelische Volk?

Noam Shalev: Ich mache keine Filme, um der israelischen Propaganda zu dienen. Ich denke, dass dieser Film gemacht werden musste, weil die Realität so kompliziert und verwirrt ist. Das oberflächliche und seichte Fernsehen kann diese Realität nicht angemessen widergeben. Das Problem ist, dass im Fernsehen alles beurteilt wird. Manchmal besteht kein Zusammenhang zwischen dem Fernsehbild und dem, was passiert. Die Geschehnisse müssen wegen Zeitmangel aus ihrem Kontext herausgerissen werden.
Ich stimme nicht immer mit den Zielen meines Landes überein. Ich denke, dass die Regierungen Zeit verlieren. Wie 80% der Israelis und Palästinenser weiß ich, wo einmal die Grenzen verlaufen werden, wie es in Jerusalem aussehen wird. Aber 20% auf beiden Seiten wollen gewinnen. Beide Seiten müssen überredet werden, sonst werden weiterhin Israelis in Selbstmordattentaten umkommen und Palästinenser werden von israelischen Soldaten gedemütigt werden.
Ich glaube, man kann weder den Israelis noch den Palästinensern die Schuld geben. Wenn ich naiv wäre, würde ich sagen, unsere Politiker sind schuld.

Igal Avidan: Im ersten Primetime War haben Sie sich auf den Israeli Alon Bernstein, der für AP arbeitet, und den Palästinenser Naji Dana, der für die AFP arbeitet, konzentriert. Warum haben Sie das nicht auch in Primetime War II getan?
Worauf führen Sie die Solidarität unter den Kameramännern zurück: auf ihre berufliche Verbindung?

Noam Shalev: Als ich den zweiten Film drehte, 2002, war es unmöglich, sich auf einen oder zwei Kameramänner zu konzentrieren. Ihre Bewegungsfreiheit war eingeschränkt und es war schwierig, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.
Und die Situation ist so kompliziert, dass es schwer ist, sie mit nur zwei Leuten zu erklären.
Es stimmt, dass es eine große Solidarität zwischen den Kameramännern gibt. Vor kurzem war ich auf dem Friedensgipfel in Akaba, da waren 1200 Kameramänner aus der ganzen Welt, und auch sie waren sich untereinander behilflich. Im Krieg ist es genau so. In Hebron ging einem palästinensischen Kameramann die Batterie aus, da gab ihm ein israelischer Kameramann eine. Es geht allen darum, ihre $200 pro Tag zu verdienen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Manche sehen die Kamera aber als Mission. Sie versuchen, ihrem eigenen Volk einen Verdienst zu leisten, indem sie ihnen bestimmte Bilder bringen, die andere Kameramänner nicht drehen können.

Igal Avidan: Du hast mit israelischen und palästinensischen Kameraleuten gearbeitet, wolltest aber keinen palästinensischen Dolmetscher. Warum?

Esther Schapira: Ich wollte niemanden gefährden. In Palästina ist die Pressefreiheit sehr beschränkt, und ich wollte nicht, dass jemand durch meine Recherchen in Schwierigkeiten gerät.
Ich finde es problematisch, dass 90% der Bilder aus palästinensischen Quellen kommen. Noch problematischer finde ich, dass die Kameraleute den Reportern eine Einschätzung dessen geben, was vor Ort passiert sind. Es ist insgesamt eine manipulative Situation.

Igal Avidan: Wie stehen Sie zur Frage der Manipulation?

Noam Shalev: Journalisten werden von Netzwerken angestellt, um die Realität zu schildern. Wenn sie das nicht gut machen, verlieren sie ihren Job. 1988 feuerte ein amerikanischer Journalist palästinensische Kinder an, mit Steinen zu werfen. Er durfte nicht mehr weiter arbeiten. Wenn Kameramänner das filmen, was sie sehen wollen, kaufen die Agenturen andere Bilder.
Ich erinnere mich allerdings an einen Vorfall, das Lynchen von zwei israelischen Soldaten in Ramallah, November 2000. Die zwei Soldaten hatten sich verirrt und wurden vom Mob ermordet. Eine italienische Nachrichtengruppe, die durch Zufall vorbeikam, konnte die Ermordung der zwei Soldaten filmen. Es waren nur 8 Sekunden, aber die Bilder hatten einen unglaublichen Einfluss auf die israelische Öffentlichkeit.

Esther Schapira: Da möchte ich widersprechen. In Ramallah, an diesem 12. Oktober 2000, waren mehrere Kameracrews da. Sie haben gefilmt, aber das Material wurde ihnen von der palästinensischen Polizei abgenommen. Eine mutige italienische Journalistin von einem kleinen Privatsender, RTI, schmuggelte ihre Aufnahmen raus. Alle dachten, jemand von der RAI, dem staatlichen Fernsehsender, musste die Bilder rausgeschmuggelt haben. Da schrieb Ricardo Christiano, von der RAI, einen Brief, in dem er versicherte, die RAI sei für das Drehen dieser Bilder nicht verantwortlich. Bevor Israel ihm die Akkreditierung zurückziehen konnte, wurde er von seinem Sender nach Vatikan versetzt.

Igal Avidan: Wie gestalten sich die Schwierigkeiten bei der Berichterstattung?

Noam Shalev: Es gibt einige israelische Journalisten, die immer wieder in die besetzten Gebiete fahren, allerdings immer mit schützender Begleitung. Da palästinensische Journalisten keine Akkreditierung für Israel haben, können sie nicht in das Land kommen. Eine Ausnahme ist Amira Hass, eine israelische Journalistin, die in Ramallah lebt. Aber weder die Israelis noch die Palästinenser akzeptieren das.

Igal Avidan: Meinen Sie, es wäre wichtig, die Namen und die Nationalität der Kameramänner offen zu legen, wenn ihre Bilder im Fernsehen gezeigt werden?

Noam Shalev: Nein, das glaube ich nicht. Wir müssen aber aufpassen, wenn wir Fernsehen schauen und uns bewusst sein, dass diese Bilder nur ein Abbild der Realität, aber nicht die eigentliche Realität darstellen. Wir dürfen nicht vergessen, dass hier jemand entschieden hat, einen bestimmten Ausschnitt eines Filmes zu zeigen. Es hätte auch ein anderes Bild sein können.

Esther Schapira: Damit bin ich nicht einverstanden. Ich finde, man sollte unbedingt wissen, woher die Bilder kommen. Es gibt nämlich noch eine dritte Bilderquelle, die Bilder von Kameraleuten, die das israelische Militär begleiten.
Man muss die Quellen in diesem Medienkrieg unbedingt offen legen.



Primetime War II
Regie: Noam Shalev

Israel 2002
55 Minuten


Jüdisches Leben

Beitrag vom 24.06.2003

AVIVA-Redaktion